eine Kisde
Ein Beobachtungsprotokoll, so könnte man die Zeichnung von Manfred Reichwein (*1942) nennen; eine spontane Skizze, die die gleiche Beachtung verdient wie ihr hinzugefügter Text. Der unakademische Strich, die schematisch hingeworfenen Männchen, das krumme Haus und davor oder darunter ein hausähnliches Vehikel – alles in schwungvoller Kontur und leicht nach rechts geneigt wiedergegeben, wie auch die Schrift, die mehr gezeichnet als geschrieben wirkt. Anders als die Skizze klingt der Text in seinem Inhalt ganz und gar nicht naiv. Eine dokumentarische, für eine Öffentlichkeit bestimmte Formulierung ist sie – gebrochen und zum ungewollten Witz gebogen, weil hier Minister kurzerhand zu Ministranden (sic!) werden.
1985 wurde Manfred Reichwein mit einer Schädelverletzung aufgefunden und leidet seitdem unter einem organischen Psychosyndrom. Im Psychiatrischen Zentrum Vitos Rheingau in Eltville, wo ich ihn kennenlerne, wohnt er seit 1992, etwa seit 2003 zeichnet er regelmäßig. Die Szene auf der Darstellung rechts beobachtete er tatsächlich am 1. März 2007. Die Sicherheitskräfte treffen während des politischen Gipfels im nahegelegenen Kloster Eberbach ein, laden ihr Equipment aus dem Bus und bauen es militärisch korrekt vor sich auf.
Bei meinem Besuch im Atelier von Vitos Rheingau sehe ich unzählige andere Zeichnungen von Manfred Reichwein. Alle haben diese gelbe Grundierung und sind mit Texten, Datum und seinem Namen versehen. Neben Zigaretten, Kaffee und Schokolade liebt Manfred Reichwein auch Autos, Straßen, sein Elternhaus und die „Pamir“, den legendären deutschen Frachtsegler, der 1957 in einem Hurrikan sank. Er zeichnet auch ulkige Raumschiffe, Apollo und den Sputnik. Das sind Themen, die er immer wieder aufs Papier bringt. Die Ideen holt er sich aus Zeitungen, aus seiner Erinnerung und aus seiner Fantasie - auf dem Papier mischen sich diese medialen und biografischen Fragmente und Geschichten neu.
Helmut Mair, der Künstler, der Manfred Reichwein im Atelier bei seiner bildnerischen Arbeit unterstützt, versorgt ihn mit Zeitschriften, die Reichwein auf der Sitzfläche seines Rollstuhls sammelt, bis er damit zur nächsten Atelierstunde rollt - die Fußflächen des Gefährts sind mit bunter Farbe bekleckert. Seine Zeichnungen befinden sich zusammen mit einigen tausend weiteren beeindruckenden Werken in der Sammlung von Vitos Rheingau und werden nur manchmal im Rahmen öffentlicher Ausstellungen gezeigt. Sie sind ein schönes Beispiel dafür, dass, auch wenn die Kunst vielleicht nicht in der Zeit ist, so doch die Zeit in einem Werk verankert sein kann.
Grit Weber in art kaleidoscope · Heft 3 | 2008
© Vitos Rheingau Atelier + Helmut Mair